Die Märchenfilme, die in der Sowjetunion etwa ab Mitte des 20. Jahrhunderts gedreht wurden, haben irgendwie einen besonderen Reiz. Als Kind schon sah ich mir sehr gerne diese Filme an; heute, als Mensch im Rentenalter, sehe ich aber auch nicht weg, wenn ich zufällig im Fernsehprogramm mal einen solchen Film entdecke. Etwas haben viele dieser Filme gemein. Die russische Volkshexe Baba Jaga spielt oftmals eine nicht unwesentliche Rolle. Sie ist ein unverbesserlicher Bösewicht und die Hütte, in der sie wohnt, ist ein kleines Bauwerk, mit allerdings ungeahnten Fähigkeiten. Sie steht auf zwei Hühnerbeinen und ist somit ganz lässig in der Lage, Ortsveränderungen aus eigener Kraft vorzunehmen.
Was ich bis vor Kurzem noch nicht wusste, ist, dass es auch hier ganz in der Nähe eine solche Hütte gibt. Mit einem kleinen Unterschied allerdings. Obwohl man sie ebenfalls auf zwei Hühnerbeine stellte, muss sie doch ständig und starr an dem Ort verharren, an dem man sie aufstellte. Dieser Ort ist ganz in der Nähe von Knobelsdorf und da die Hütte nicht in der Lage ist, zu irgendjemanden herzukommen, muss man zu ihr hingehen, wenn man sie besuchen will. Genau diesen Plan entwickelte Dr. Uli Knopf für seine letzte Wanderung mit unserer Wickersdorfer Wandergruppe.
Neu an seinem Konzept war, dass wir vor dem Wandern erst noch ein kräftig Mittagsmahl im Köditzbrunnen in Saalfeld einnehmen sollten. Die genannte Gaststätte ist allgemein für ihr feines Essen bekannt und so gab es gegen diesen Teil des Planes keine Einwände.
Meine Entscheidung für eine etwas kleinere Portion brachte mir zwar einige spöttische Bemerkungen ein, aber ich kann sagen, dass ich trotzdem am Ende knüppeldicke satt war. Reichlich Energie für den Aufstieg nach Knobelsdorf hatte ich also schon mal getankt. Diesem stand noch eine kurze Autofahrt bis zum Parkplatz Lositztal bevor,
während der mein Energieverbrauch schätzungsweise ziemlich unbedeutend gewesen sein muss. Zumindest verspürte ich bei unserer Ankunft dort noch keinerlei wieder aufkommendes Hungergefühl. So fühlte ich mich – und ich gehe davon aus, den anderen Teilnehmern unserer Wandergruppe ging es ebenso – gut gerüstet für den etwa 1 km langen Anstieg zu dem kleinen Örtchen Knobelsdorf.
Von dem leichten Regen, der uns seit unserem Aufbruch in Wickersdorf nahezu permanent begleitet hatte, war hier zu unserer großen Erleichterung nichts mehr zu spüren. So begannen wir unseren Fußmarsch nach Knobelsdorf. Wir gingen auf der Teerstraße, die man ohne Weiteres als bequemen Wanderweg bezeichnen kann. Die Steigungen, die uns dabei erwarteten, waren allerdings nicht ganz ohne, so dass gewisse Anstrengungen, den Weg zu bewältigen, bei einigen Wanderfreundinnen und -freunden durchaus bemerkbar waren. Etwa ab der Hälfte der Strecke ergaben sich links des Weges, quer übers Wiesental geschaut, die ersten visuellen Eindrücke von unserem Reiseziel, der Baba Jaga – Hütte.
Nun muss ich zugeben, dass ich bei unserer Ankunft in Knobelsdorf, obwohl der Weg sicherlich einige Kräfte gezehrt hatte, immer noch keinerlei Hunger verspürte. Im krassen Gegensatz dazu war aber die Kaffeetafel bereits gedeckt.
Ich weiß ja nicht, wie die Verdauung meiner Begleiter funktioniert, aber ich hatte den Eindruck, sie langten alle kräftig zu. Ich musste mir zwei kleine Stück Kuchen regelrecht hineinzwingen, um nicht als Spielverderber dazustehen. Was ich aber sehr lobend erwähnen muss, ist die Tatsache, dass extra für mich allein ein Schälchen Zucker auf dem Tisch stand.
Nach dem Kaffee stand die Besichtigung eines sehr speziellen Getränkeautomaten auf dem Programm, den Willy entdeckt hatte.
Beate und ich nahmen daran teil und erfuhren nebenbei von einem Einheimischen, dass das ehemalige Rotstern – Ferienheim jetzt angeblich ein Swingerclub sein soll. Auch in unserer Gruppe konnten sich das einige tatsächlich vorstellen. Na ja – ganz ausgeschlossen ist das heutzutage freilich nicht. Aber wir wollten ja schließlich zur Baba Jaga – Hütte.
Das Dorf kaum hundert Meter hinter uns, bemerkten wir, wie Kuno Rosenbusch fehlte. Er hatte einen Bekannten getroffen, sich verquatscht und anschließend den falschen Abzweig genommen. Zum Glück war er noch in Hörweite – so fand er am Ende zurück zu uns. Ingrid und ich fingen ihn wieder auf, nachdem er einige Meter querfeldein zurücklegen musste.
Von da an war es nicht mehr weit zum Gleitschirmfliegerplatz, von wo aus sich Menschen tatsächlich mit derartigen Fluggeräten in die Lüfte schwingen.
Wir hielten uns nicht allzu lange auf, weil, wenn dort gerade keine Gleitschirmflieger starten, gibt es eigentlich wenig zu sehen. Außerdem wollten wir ja zur Baba Jaga – Hütte, die wohl noch in weiter Ferne zu liegen schien.
Also wanderten wir weiter über Stock und Stein, durch Wiesen und Wälder, vorbei an halb verfallenen Jagdkanzeln, unsere Gedanken strikt auf das Ziel gerichtet.
Den Landschaften, die wir dabei passierten, kann man einen gewissen Reiz nicht absprechen. Sehr abwechslungsreich und teilweise von wilder Schönheit. Dabei ging es nach wie vor auch längere Strecken immer noch bergauf.
Mit anderen Worten – eine Wanderung für Weicheier hatte Uli da nicht geplant. Die Temperaturen hielten sich zu unserem Glück in Grenzen, die man in dieser Situation als angenehm empfinden konnte. Und wie es im Leben so ist, hatten auch wir irgendwann den Gipfelpunkt unserer Wanderung erreicht. Nach noch einigen hundert Metern mit mehr oder weniger Gefälle konnten wir durch die Bäume hindurch die Baba Jaga – Hütte am Rande des Waldes stehen sehen.
Die aus Holz geschnitzte Hexe im Inneren der Hütte hatte nur sehr wenig Ähnlichkeit mit der Hexe aus den Märchenfilmen und war auch nicht ganz so groß. Für eine Thüringer Baba Jaga fand ich sie allerdings ausreichend.
Neben der Hütte hatte man eine Sitz- oder Liegefläche errichtet, zu deren Erklimmen man aber wohl über Elan und einen intakten Bewegungsapparat verfügen müsste. Ich versuchte es also gar nicht erst, denn im Moment unserer Ankunft war mir beides nicht gegeben.
Und wer nun, so wie ich, der Meinung war, unser Weg würde uns von hier aus direkt nach unten ins Tal führen, wo unsere Autos standen, hatte sich gründlich getäuscht. Als wir genug Baba Jaga gesehen hatten, eröffnete uns Uli: „Der Rückweg geht nur direkt wieder über Knobelsdorf“. Also erstmal wieder bergauf. Dass diese Neuigkeit so manchen, wenn auch vielleicht ungehörten, Seufzer hervorrief, kann ich mir lebhaft vorstellen. Meine Begeisterung darüber hielt sich zugegebenermaßen auch in ziemlich engen Grenzen. Doch Wickersdorfer Wanderer lachen der Unbill ins Angesicht und gehen vorwärts. Von ein paar unerwarteten Höhenmetern lassen die sich nicht aufhalten. Also zurück nach Knobelsdorf und von dort aus den Abstieg beginnen, war jetzt die Parole. Gesagt, getan.
Der Rückweg führte uns hinab ins Wiesental (von Uli Gissratal benannt), über welches hinweg wir den ersten Blickkontakt von der Teerstraße hinüber zur Hütte gehabt hatten. Anja und Reiner Rosenbusch, als sie des Weges ansichtig wurden, beschlossen, doch lieber wieder die Teerstraße zu nehmen.
Alle anderen wagten sich ins Abenteuer. Jetzt, da ich es gesund hinter mich gebracht habe, schätze ich ein, dass die Bezeichnung „Abenteuer“ für diesen letzten Abschnitt unserer Wanderung an diesem Tag von mir als durchaus angemessen erachtet wird. Der anfangs noch vorhandene Weg ging schon nach wenigen Metern in etwa kniehohes, zum Glück aber nicht allzu nasses Gras über.
Ich schätzte mich glücklich der Letzte zu sein, denn vor mir war das Gras natürlich schon wunderbar niedergetrampelt. Der Wald, den wir anschließend erreichten war tatsächlich genauso, wie man sich einen richtigen Märchenwald vorstellt. Urig und wild. Einen quer über den Weg liegenden Baum konnte man in gebückter Haltung relativ leicht unterqueren.
Das Gefälle, das wir meistern mussten, hatte es allerdings in sich. Es verlief nicht nur in Marschrichtung, sondern auch seitlich und war nicht von schlechten Eltern. Für Leute mit nicht völlig intakten Gelenken durchaus eine Herausforderung. Die wir aber schließlich mit Bravour meisterten. Allerdings denke ich, dass wohl alle am Ende erleichtert waren, wieder im Auto zu sitzen. Denn damit ging es zurück in die Heimat.
Was aber keineswegs bedeutet, dass damit dann schon Schluss gewesen wäre. Gemeinsames Abendbrot und gemütliches Zusammensein standen auf dem weiteren Programm. Aufgrund der doch recht niedrigen Temperaturen wurde das Ganze vom Sportplatz ins Vereinszimmer verlegt.
Bernd Liebner baute davor seinen Grill auf und in der Küche wurden von den Frauen weitere Köstlichkeiten zubereitet.
Als hätten wir den ganzen Tag noch nichts zu essen bekommen. Wie beim Kaffeetrinken langten auch alle kräftig zu. Ich allerdings hatte Mühe, eine läppische Bratwurst in mich hineinzubringen. Wesentlich leichter ging das dafür mit dem zur Verfügung stehenden Kräuterschnaps.
Zum Angebot standen zwei Flaschen davon, die einige Saalrunden ergaben und dann am Ende beide leer waren. Aber sicher waren es nicht nur sie, die dafür sorgten, dass das Zusammensein an diesem Abend in tatsächlich sehr ausgeprägter Gemütlichkeit stattfand. Natürlich endete diese Wanderung dadurch etwas später als üblich. So richtig nüchtern werden wohl am Ende auch nur die Wenigsten gewesen sein. So anstrengend die Wanderung zur Baba Jaga – Hütte gewesen war, so furios war dann der Ausklang des Tages. Nun warten wir mal ab, was das nächste Mal auf uns zukommt.
Heimatverein Wickersdorf e. V. Eddy Bleyer
Mai 2025