Wickersdorf

Geschichte und Bedeutung

Wickersdorf findet 1435 seine erste urkundliche Erwähnung, wird aber bereits 1454 als Wüstung bezeichnet. 1567 errichteten die Herren von Könitz auf Schloss Eyba ein Vorwerk in der Flur Wickersdorf. 1743 wurde Wickersdorf durch Erbteilung Rittergut und Adelssitz. Das Gut erhielt die Brau- und Schankgerechtigkeit sowie die Jagdgerechtigkeit. An Stelle des Gutshauses entstanden das Herrenhaus und zahlreiche neue Wirtschaftsgebäude. Für Tagelöhner wurden die ersten Häuser des heutigen Dorfes gebaut. 1887 wurde das Gut Domänengut des Herzogtums Sachsen-Meiningen. Das Herrenhaus wurde seitdem nicht mehr genutzt und verfiel zusehends.

Als Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland eine Bewegung entstand, die das Jugendalter erstmals als einen eigenständigen, nach Freiheit und Naturerfahrung strebenden Lebensabschnitt begriff, verbanden fortschrittliche Pädagogen damit intensive Bemühungen, die die Abkehr von der „Alten Schule“ und der „Alten Erziehung“ beförderten. Die Didaktik sollte sich an den Erfahrungen der Kinder und nicht mehr an Unterrichtsstoffen oder organisatorischen Gesichtspunkten ausrichten. Zum Zwecke der Umsetzung dieser Reformideen gründete Hermann Lietz (1868 – 1919) die Landerziehungsheime. Vom Landerziehungsheim Haubinda trennte sich 1906 eine Gruppe von Reformpädagogen um Dr. Gustav Wyneken (1875-1964) und Paul Geheeb (1870-1961) ab, um ihre eigenen reformpädagogischen Ziele umzusetzen. In dem in reizvoller Umgebung liegenden Wickersdorf mit dem ehemaligen Herrenhaus gründeten sie 1906 die „Freie Schulgemeinde Wickersdorf“. Mit Unterstützung wohlhabender Eltern und Gönner wurden die umliegenden Scheunen und Stallungen nach und nach erworben und zu Lehr- und Internatsgebäuden umgebaut.

Die Einrichtung mit Internat führte Schüler vom 10. Lebensjahr an bis zum Abitur und erwarb bald internationalen Ruf mit reformpädagogischen Ansätzen wie

  • Gleichstellung von Geschlecht, Nation und Religion
  • Koedukation
  • gemeinschaftliche Schüler-Lehrer-Selbstverwaltung
  • Integration künstlerischer, sportlicher und handwerklicher Bildung.

Als sich in den Jahren 1933 – 1945 Bildung und Erziehung zunehmend national-sozialistischen Zielen anpassen mussten, gelang es, sich einer Einbeziehung in das System der nationalpolitischen Erziehungsanstalten weitestgehend zu entziehen. Nach 1945 scheiterten Versuche zur Wiederbelebung der „Freien Schulgemeinde“. Die Schule wurde staatliche „Erweiterte Internatsoberschule“ mit naturwissenschaftlichem und sprachlichem Zweig. Durch die Umgestaltung zur „Spezialschule zur Vorbereitung auf das Russischlehrerstudium“ konnte 1964 die drohende Schließung abgewendet werden. Durch das Kultusministerium des Freistaates Thüringen wurde 1991 die Einrichtung endgültig geschlossen. Private Projekte zur Wiederbelebung einer Schule scheiterten am finanziellen Aufwand.

1993 übernahm die „Lebensgemeinschaft Wickersdorf e.V.“ die bereits dem Vandalismus und dem Verfall preisgegebenen Gebäude und sanierte sie nach und nach, sodass heute dort 70 behinderte Menschen nach antroposophischem Leitbild in Familien betreut werden können.

Wickersdorf liegt bei 650m ü. N. N., hat heute etwa 250 Einwohner und ist seit 1997 Ortsteil der Einheitsgemeinde „Saalfelder Höhe“.

U. Knopf


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