Es war am Abend des 10. Dezember

Es war am Abend des 10. Dezember

Es war am Abend des 10. Dezember 2019. Fünf Männer hatten sich im spärlich beheizten Proberaum der Band „Die Alten Germanen“ eingefunden. Aber sie waren noch nicht vollzählig. Sie warteten auf den Sechsten, der sich im Saalfelder Feierabendverkehr festgefahren und deshalb verspätet hatte. Über eine halbe Stunde mussten sie ausharren, bis dieser dann endlich zur Tür hereintrat und eine Entschuldigungsformel vor sich hinbrummelte. Die Fünf verziehen dem Neuankömmling, da ihnen ohnehin nichts Anderes übrigblieb und alsdann wies ihr Anführer zur Tür. Die Zeit war reif, sich endlich dem Zweck des Treffens zuzuwenden.

Gemeinsam verließen sie den Raum und traten hinaus in die Kälte. Aufgrund der Verspätung hatte sich bereits die Dämmerung über das Dorf herabgesenkt. So war das nicht geplant gewesen, war aber nun auch nicht mehr zu ändern. Sie mussten ihrem Ziel folgen.

Der Frost schnitt ihnen in die Gesichter. Ohne Umschweife brachen sie auf zum Sportplatz. Vom Vereinshaus an der Kastanie vorbei übers Dreieck und schon waren sie am Ziel.

Von der Straße aus nicht einsehbar, lag der Eingang der Bühne, deren mächtige Silhouette sich im Halbdunkel abzeichnete, in deren eigenem Schatten. Hier versammelten sich die Männer.

Der Anführer zog ein Handy aus der Tasche und übergab es dem, der zu spät gekommen war. „Das muss fotografiert werden“, waren seine Worte.

Irgendwo aus dem Dunkel hatte er einen Spazierstock herausgeholt. „Du bist der Chef.“ Mit dieser Feststellung überreichte er einem weiteren der Männer den Stock, an dem man nun deutlich einen Schlüssel hängen sah. „Damit kannst du jetzt aufschließen“, setzte er fort. Der Nachzügler fotografierte.

Der Inhaber des Stockes kletterte inzwischen die wenigen Stufen der Metalltreppe hinauf, die zur Eingangstür der Bühne führte. Behände führte er den Schlüssel ein. Die Männer am Fuß der Bühne folgten seinen zielstrebigen Bewegungen mit den Augen. Fast lähmende Spannung war ihnen ins Gesicht geschrieben. Dann drehte sich der Schlüssel im Schloss.

Die Tür öffnete sich. Vom Innenraum gähnte ihnen tiefste Finsternis entgegen. Bis schließlich einer den Lichtschalter fand.

Im gleißenden Licht der Lampen war die Überraschung perfekt. In der Mitte des Raumes standen sechs Stühle um eine Tafel, die mit einer Flasche Sekt und den dazu gehörigen Gläsern gedeckt war. Ein Kübel zum Kühlen erübrigte sich, denn die Temperatur auf der Bühne entsprach der, die im Inneren eines Kühlschrankes herrscht. Es könnten allerdings auch noch ein paar Grad weniger gewesen sein. Ein Karton Kümmerling, zwischen den Sektgläsern aufgebaut, fehlte auch nicht. Einen Kasten Bier hatte der Gastgeber, welcher inzwischen eindeutig in der Person des Anführers erkannt war, diskret an der Rückwand der Bühne postiert.

Mit der Bemerkung: „Freibier kann auch kalt sein“, forderte er die immer noch verdutzten Männer auf, sich an den Getränken zu bedienen. Worum er diese schließlich kein zweites Mal bitten musste.

Die Stühle um den Tisch luden bei der klirrenden Kälte nur wenig zum Hinsetzen ein. Dennoch taten die fünf Eingeladenen es, während der Anführer zu einem Schlüsselschalter neben der Eingangstür trat. Das Rolltor an der Bühnenfront war bis zu diesem Zeitpunkt geschlossen gewesen. Der Anführer zeigte darauf mit den Worten: „Dreh ich nach links, geht es hoch. Dreh ich nach rechts, geht es runter.“ Dabei drehte er den Schlüssel und das Tor bewegte sich genau, wie er es prophezeit hatte. Ein Ausdruck der Bewunderung war in den Augen der anderen zu lesen. In ihren Worten schwang das pure Erstaunen mit. Ihre Herzen schlugen voller Begeisterung.

Der Anführer, entzückt über die Wirkung seiner Demonstration, setzte sich zu den anderen. Geheimnisvoll blickte er in die Runde, während er Stift und Zettel aus der Tasche zog. Vor dem, der zu spät gekommen war, legte er sie ab. „An diesem Bauwerk wird in absehbarer Zeit ein Aufkleber angebracht. Was da drauf steht, müssen wir jetzt gemeinsam entscheiden“, sagte er. „Jeder kann Vorschläge machen.“ Und an den Zuspätkommer gerichtet: „Du schreibst auf!“

Aber der Plan funktionierte nicht. Jedes Mal, wenn einem etwas einfiel, nahm er selbst den Zettel und schrieb. Argumente um das Für und Wider wurden ausgetauscht. Eine lebhafte Diskussion entbrannte. Wobei manch einer wiederholt aufstand und nervös den Tisch umrundete. Doch sie kämpften weiter um ein Ergebnis, denn sie hatten keine Wahl. Schon gleich zu Anfang hatte der Anführer gesagt: „Bevor wir uns nicht einig sind, gibt es keinen Sekt.“

Deshalb gab es nun kein Zurück mehr. Die Kälte auf der Bühne machte ihnen zu schaffen. Sie sehnten sich nach der Geborgenheit ihres warmen Proberaumes. Und immer mehr neue Vorschläge brachten sie nicht weiter. Es musste etwas geschehen.

Der zu spät gekommen war, nahm schließlich den Zettel, las einen der darauf stehenden Begriffe vor und sagte: „Einigen wir uns doch darauf!“ Seine Worte schlugen ein, wie eine Bombe. Doch die Sprachlosigkeit währte nicht lange. Die um ihn saßen, schienen zu begreifen, dass dies der letzte Ausweg war. Und eine akzeptable Lösung.

Wenig später goss der Anführer den Sekt ein. Dabei schüttete er mehr daneben, als er in die Gläser brachte, aber für einmal Anstoßen würde es schon reichen.

Endlich konnten sie sich zu prosten. Sie hatten es geschafft. Völlig unvermittelt stimmte der Anführer das Lied von den alten Germanen an. Die anderen stimmten ein. Der zu spät gekommen war, verschluckte sich dabei.

Der Name, auf den sie sich geeinigt hatten, wird bald in großen Lettern an der Bühne zu lesen sein.

Heimatverein Wickersdorf e.V.                                     Der zu spät Gekommene

Fotos: Der Anführer, der zu spät Gekommene

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