Ein Tag auf Umwegen

Ein Tag auf Umwegen

Noch liegt morgendliche Stille über den Häusern von Wickersdorf, als sich, trotz der frühen Stunde, einige Einwohner auf dem Dorfplatz versammeln. Das Fernweh hat sie so zeitig aus ihren Betten getrieben und ihr erklärtes Ziel ist es, eine Busreise zu zwei interessanten Sehenswürdigkeiten unseres schönen Heimatlandes zu machen. Der Himmel hat sich frei von Wolken gemacht, an diesem Samstag. Es ist der 26. Juni 1999. Der strahlend blaue Himmel läßt ahnen, daß wir einen herrlichen Tag vor uns haben.

Als der Bus um 06.50 Uhr an die Haltestelle fährt, sind alle gemeldeten Teilnehmer anwesend. Im Bus sitzen bereits Fahrgäste aus Kleingeschwenda und der Hühnerschenke. Wir Wickersdorfer steigen zu und ohne Verzögerung setzt sich der Bus wieder in Bewegung.

Doch noch ist die Schar der Reiselustigen nicht vollständig. Auch aus Bernsdorf, Volkmannsdorf und Dittrichshütte haben sich Interessenten angemeldet. So kommt es, daß wir an diesem lichten Sommermorgen eine kleine Rundfahrt über unsere blühende Saalfelder Höhe machen und in den genannten Orten, die bereits wartenden Fahrgäste zusteigen lassen. Nachdem die Reisegesellschaft endlich vollzählig ist und unser Bus von Dittrichshütte in Richtung Bad Blankenburg unterwegs ist, ergreift Kurt Hammer, der auch diesmal wieder das Amt des Reiseleiters übernommen hat, das Wort. Er äußert sich erfreut, dass die Aktivitäten des Heimatvereins ihre Wellen über die gesamte Höhe schlagen lassen, und daß zumindest auf diesem Gebiet, unsere Einheitsgemeinde zusammenzuwachsen scheint.

Uli Daum, der Busfahrer, schließt sich seiner Rede an und richtet zum Zwecke der Begrüßung einige kurze Sätze an seine Fahrgäste. Damit ist Gerhard Bergers Meinung, daß Busfahrer Bus fahren, und nicht erzählen sollen, vorerst und bis auf weiteres vom Tisch. Immerhin hält sich Uli in seinen Ausführungen relativ zurück, so daß nach kurzer Zeit, die Fahrgäste ihre schon mehr oder weniger in Gang gekommenen Unterhaltungen fortsetzen können. Doch auch Kurt waltet unverdrossen seines Amtes. Er erläutert, wie er die Reiseroute geplant hat, macht aber gleich darauf aufmerksam, daß wir evtl. mit Änderungen rechnen müssen. So wird die Fahrt nicht langweilig, egal, ob man sich mit seinem Platznachbarn unterhält, oder Kurts Erklärungen lauscht. Einen kleinen Nachhilfeunterricht für alle, die mit der Tschu- Tschu- Bahn an der Lichtetalsperre unterwegs waren, gibt es gleich am Ortsausgang Bad Blankenburg. Fährt man Richtung Schwarza, sieht man linkerhand die Trasse, in der die Wasserleitung von Deesbach zum Wasserwerk Zeigerheim liegt.

Wir merken kaum, wie die Zeit vergeht, da haben wir schon Teichel erreicht. Wer es noch nicht weiß, erfährt jetzt, daß die Straße, die sich wenige Meter vor der Stadt rechts den Berg hinaufwendet, direkt nach Großkochberg führt. Auch die Rolle, die Goethe zu Lebzeiten für diese Ortschaft gespielt hat, erwähnt Kurt mit einigen Sätzen. Es ist im Wechselspiel der Zeiten also gar kein Wunder, daß heute noch die Erinnerung an diesen großen Mann mitschwingt, wenn man von dieser kleinen Gemeinde spricht.

Apropos „klein“ ! Die kleinste Stadt der DDR zu sein, war jahrelang erklärter Anspruch von Teichel, dessen backsteingebautes Rathaus wir gerade passieren. Doch der Rekord blieb nicht unumstritten. Mit zwei Einwohnern weniger meldete eines Tages Ummerstadt, aus dem jetzigen Landkreis Hildburghausen, Protest an und verkündete im Gegenzug: „Wir sind kleiner!“ Wie lange der Streit ging, und ob je eine endgültige Entscheidung getroffen wurde – diese Frage scheint bis heute nicht eindeutig geklärt zu sein.

Hinter Teichel steigt das Gelände schlagartig an. In mehr oder weniger engen Windungen schlängelt sich die Straße den Berg hinauf. Die Hochebene, die wir dadurch erreichen, wird die Saale- Ilm- Platte genannt. Von welchen beiden Flüssen diese Fläche in ihrer Ausdehnung weitestgehend eingegrenzt wird, kann sich der aufmerksame Leser anhand des Namens sicher selbst ausrechnen. Fährt man weiter Richtung Weimar, senkt sich das Gelände erst wieder, wenn es ins Tal der Schwarza hinuntergeht. Es handelt sich dabei allerdings um eine andere Schwarza als die, die bei Rudolstadt in die Saale mündet. Wir durchqueren das kleine Städtchen Blankenhain, das der Volksmund auch als „Lindenstadt“ bezeichnet. „Dieser Name könnte daher rühren, daß hier viele Linden wachsen“, gibt Kurt zu bedenken. Eine bessere Erklärung fällt im Moment keinem der Anwesenden ein!
Bevor wir die Mauern von Bad Berka erreichen, erhebt sich rechts der Straße der Adelsberg. Als beliebter Aussichtspunkt reckt sich von seinen Höhen der Friedensturm in den Himmel. Wir müssen für heute auf den Blick, der von dort aus weit übers Land reicht, verzichten, und setzen unsere Fahrt fort, indem wir die Höhenzüge rechts und links des Weges hinter uns lassen.

Die Geschichte Bad Berkas ist in hohem Maße geprägt vom Aufstieg und Fall verschiedener medizinischer Fachrichtungen und Heilverfahren. Wie Kurt uns glaubhaft versichert, sind auch an dieser Stelle die Einflüsse eines gewissen Herrn Goethe nachweisbar. Just von diesem kam ANNO 1813 der Tip, ein Schwefelbad zu eröffnen. Die Erfolge, die damit erzielt wurden, versiegten allerdings schon 1835 wieder, als plötzlich – und wahrscheinlich auch völlig unerwartet -, die dazu notwendige Quelle trocken blieb. So wechselten sich dann in den Folgejahren, und bis in die heutige Zeit, die Heilmethoden und therapeutischen Hauptrichtungen, je nach natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, immer wieder ab. Der Name „Berka“ könnte aus dem altdeutschen Ausdruck „Bercha“, der soviel wie „Birkenwasser“ bedeutet, entstanden sein. So wie Kurt uns diesen Zusammenhang erklärt, wird er von allen, die im Bus sitzen, akzeptiert. Inmitten von Bad Berka werden Kurts Pläne zum ersten Mal durchkreuzt. Die Fahrt durchs mittlere Ilmtal, wie Kurt es eigentlich vorhatte, muß leider ausfallen, da die Strecke für Fahrzeuge vom Format unseres Busses gesperrt ist. Stattdessen müssen wir ein Stück Autobahn in Kauf nehmen. Während unser Bus in Richtung A4 unterwegs ist, erläutert Kurt, daß das mittlere Ilmtal eine historisch und geologisch sehr interessante Region ist. Allerdings beläßt er es bei einigen allgemeinen Beschreibungen und rät jedem, der es irgendwie möglich machen kann, diesen Landstrich einmal auf eigene Faust zu erkunden.

Kaum sind wir von der Autobahn herunter, stellen sich uns neue Hindernisse in den Weg. Der Bahnübergang am Ortseingang von Apolda ist gesperrt, was uns dazu zwingt, einen kleinen Abstecher in die Randgebiete der Stadt zu machen. Der Umweg, den wir dabei machen, ist nicht von allzu dramatischem Ausmaß, so daß der Bus schon nach etwa zehn Minuten wieder auf die geplante Reiseroute zurückkehrt. Daß eine Glocke des Kölner Doms in Apolda gegossen wurde, ist wahrscheinlichen für so manchen von uns eine ganz verblüffende Neuigkeit.

Auf unserem Weg erreichen wir schließlich durch unermüdliche Fahrt Eckartsberga. Der Name dieser über 1000 – jährigen Stadt geht wohl auf die ANNO 998 erbaute Grenzfeste zurück. Nach ihrem Erbauer, dem Markgrafen Ekkehart von Meißen, benannt, hieß das wehrhafte Gemäuer „Ekkhartsburg“. Das kleine Städtchen hat so einiges zu bieten. Auf dem Sachsenberg, oberhalb der Stadt, thront die Holländermühle. Im krassen Gegensatz zu ihrem Namen zeichnet sie sich dadurch aus, daß das Windrad einem Baustil entspricht, der typisch für Mühlen im Mittelmeerraum ist. Und wo findet sich die längste Rodelbahnkurve Europas? Natürlich in der Eckartsbergaer Sommerrodelbahn.

Doch wo viel Gutes ist, darf der Gerechtigkeit halber ein kleiner Wermutstropfen nicht fehlen. Wen wundert es also, dass, zu unserem vermeintlichen Pech, die direkte Verbindung zwischen Eckartsberga und Bad Bibra, die wir eigentlich nehmen wollten, für uns nicht befahrbar ist? Logischerweise bringt uns dieser Umstand in die Verlegenheit, wieder einen kleinen Umweg fahren zu müssen. Da stellt sich plötzlich heraus, dass wir glücklicherweise doch kein Pech haben. Die kurze Schleife, die wir gefahren sind, bringt uns bis unmittelbar an die Holländermühle heran, die wir von unserem geplanten Weg aus vermutlich überhaupt nicht zu Gesicht bekommen hätten. Der Versuch, im Schatten der Mühle einen Parkplatz für eine längst fällige Kaffeepause zu finden, schlägt leider fehl. So wenden wir uns schließlich von dem imposanten Bauwerk ab und setzen unseren Weg übers Land fort. Kaum ist der Bus richtig in Fahrt gekommen, findet Uli nun doch eine passende Parkmöglichkeit, so dass zur Erleichterung manches Fahrgastes endlich die lang ersehnte Rast stattfinden kann.

Wir nähern uns Bad Bibra und was selbst dem ungeübten Beobachter ins Auge sticht, sind die knallroten Felder, die sich als farbenfroher Kontrast zum leuchtend blauen Himmel am Horizont erstrecken. Schon seit Bad Berka war unübersehbar, wie massenweise Mohnblumen die ungemähten Feldraine und Straßenränder zierten, als wären sie hingesät. Doch die blutfarbene Kulisse rings um Bad Bibra setzt dem ganzen Schauspiel die Krone auf. Hans Krabiell läßt sich, angeregt durch die Farbenpracht, zu der Vermutung hinreisen, daß der Mohn in dieser Region vielleicht irgendwann als Kulturpflanze angebaut wurde. Angesichts der Myriaden roter Blüten muß man zugeben der Verdacht liegt nahe.

Der Bach, der seinen Lauf durch Bad Bibra nimmt, heißt sinnigerweise, wie kann es anders sein, Biber. Auf dreizehn Kilometern Länge dieses Baches standen in der Vergangenheit zwölf Mühlen. Worauf die Bibraer noch stolz sein können- sie beherbergen zwischen den Mauern ihrer Stadt das wohl modernste Erlebnisbad des Landes Sachsen – Anhalt. Solche Superlative sind ja aber in unserer kurzlebigen Zeit mitunter nur von kurzer Dauer. Ein sehr eindrucksvolles historisches Detail, das der relativ kleinen Ortschaft so leicht keiner streitig macht, ist ihr stattliches Alter, von nachweislich nunmehr 1213 Jahren.

So lange können wir uns natürlich nicht aufhalten, denn unser erstes erklärtes Reiseziel rückt nun doch merklich näher. Dazu kehren wir übrigens, und noch dazu völlig unbemerkt, wieder auf das Territorium des Freistaates Thüringen zurück. Es ist nur noch ein kurzes Stück Wegs, dann erreichen wir schließlich Wiehe, den Geburtsort des namhaften Historikers Leopold von Ranke. Allerdings ist das nicht der Grund, weshalb wir hierher gekommen sind.

Vielmehr haben wir im Sinn, die größte Modellbahnanlage Europas zu besichtigen. Und die ist genau hier in Wiehe errichtet! Pünktlich nach Zeitplan treffen wir an Ort und Stelle ein.

Hans stellt sich sofort nach Eintrittskarten an, bei der Verteilung müssen wir aber feststellen, daß noch vier Karten fehlen. Mit diplomatischem Gespür kann Kurt das Problem an der Kasse ohne weitere Kosten lösen. Damit ist der Weg frei, so daß wir guten Gewissens ohne Umschweife mit der Besichtigung beginnen können. Die Anlage hält, was Kurt uns schon im Vorfeld versprochen hatte. Auf einer neunhundert Quadratmeter großen Fläche ist eine, einerseits sagenhafte, und andererseits verblüffend realistisch wirkende Landschaft dargestellt.

Mit liebevoller Detailtreue sind einige tatsächlich existierende Sehenswürdigkeiten unserer Heimat auf der Platte als Miniaturen aufgebaut. An die Zeit vor der Wende wird durch die Nachbildung eines kurzen Abschnittes der ruhmlosen Zonengrenze, die die beiden deutschen Staaten voneinander trennte, erinnert. Nicht ganz so ernst zu nehmen erscheint das Plakat, auf dem das Konterfei unseres längst dahin gegangenen, und zu Lebzeiten sicher nicht von allen verehrten Staatsratsvorsitzenden, des Genossen Walter Ulbricht, zu sehen ist. Daneben steht in großen Lettern: „ALLES FÜR DEN SOZIALISMUS – ALLES FÜR DEN FRIEDEN“. Aufgestellt sind die beiden Schilder vor dem stilisierten Meininger Bahnhof, wo sie auch im echten Leben gut hätten stehen können. Die gesamte Anlage, sowie die in einem Nebenraum stehenden, etwas kleineren Modellbahnplatten bis ins Detail zu beschreiben, wäre eine Aufgabe für sich. Deshalb soll an dieser Stelle darauf verzichtet werden.

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Ganz im Gegensatz zur Genialität der Modellbauer zeigt sich die eigenständig tätige Gästeversorgung. Die nach dem Vorbild eines Mc Donald’s arbeitende gastronomische Einrichtung mit dem vielsagenden Namen „Zum Puffer“, ist dem Ansturm hungriger und durstiger Besucher in keinster Weise gewachsen. Selbst die Vorbestellung, die Kurt schon eine halbe Stunde vor unserer Ankunft vom Bus aus ausgelöst hat, kann nichts dazu beitragen, die Schlangenbildung am Versorgungsstand auch nur im Geringsten einzudämmen. Nur gut, daß wir nicht unter Zeitdruck stehen. So wird letztendlich auch der letzte Hunger gestillt – und als wir es uns wieder in unserem Bus gemütlich machen, ist auch der schlimmste Durst gelöscht.
Unser weiterer Weg führt uns einige Kilometer durch die Unstrutniederung. Kurt weiß von verheerenden Hochwasserkatastrophen zu berichten, die jahrhundertelang das Gebiet immer wieder heimsuchten. Durch die Talsperre Kelbra ist die Überschwemmungsgefahr seit den 70- er Jahren weitestgehend gebannt. Die katastrophalen Straßenverhältnisse aber haben scheinbar die Jahrhunderte unverändert überdauert. Unser komfortabel gefederter Bus setzt ungeachtet dessen seine Fahrt fort, wobei auch Donndorf, mit seinem ANNO 1250 gegründeten Kloster, auf unserer Strecke liegt. In dem ehrwürdigen Gemäuer hat seit 1996 die Ländliche Volkshochschule Thüringen e.V. ihren Sitz eingerichtet.

In der Kleinstadt Artern hatte sich vor der Wende die Metallurgie zu recht ansehnlicher Bedeutung entwickelt. Die Kyffhäuserhütte sicherte den Broterwerb so mancher Familie. Doch wie von so vielen produktiven Industriezweigen ist unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen davon nicht sehr viel, vielleicht auch gar nichts übriggeblieben. Gott sei Dank werden aber nicht überall die Errungenschaften der Vergangenheit einfach so abgewickelt und von der Bildfläche wegradiert. Sangerhausen, die Berg- und Rosenstadt ist ein Ort, wo es von Historie und Sehenswürdigkeiten nur so wimmelt. Der Ausdruck „Bergstadt“ leitet sich wohl vom, seit dem vierzehnten Jahrhundert betriebenen, Kupferbergbau ab.

Ihre Blütezeit erreichte die Bergbau- und Hüttenindustrie auch hier in den Jahren, bevor die Wiedervereinigung mit ihren revolutionären Tendenzen ganze Wirtschaftszweige auf den Gebieten östlich der Grenze lahm legte.

Unser Besuch in Sangerhausen gilt allerdings seiner Bedeutung als Rosenstadt. Diesen Ruf hat die Stadt dem 1903 eröffneten Europa – Rosarium zu verdanken. Auf diese Einrichtung hat die neue Gesellschaftsform mit ihren guten Verbindungsmöglichkeiten zum Ausland natürlich sehr befreiend gewirkt. Glaubt man verlässlichen Informationen, hatte das Rosarium während der SED – gesteuerten Reiseeinschränkungen nicht die allerbesten Voraussetzungen.

Jetzt ist der Bestand auf sechstausendachthundert verschiedene Rosenarten aufgestockt. Darunter sind auch die Rosen, die in Goethes Garten blühten. Zusammen mit dreihundertfünfzig Baum- und Straucharten wachsen diese auf einer Gesamtfläche von über fünfzehn Hektar. Und wir haben heute das große Glück, das alles bewundern zu dürfen. Die Erkundung des Geländes bleibt jedem selbst überlassen, also macht sich die Besatzung unseres Busses trüppchenweise auf die Socken, den Park zu durchstreifen.

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Das Besondere an diesem Tag ist, dass in Sangerhausen gerade Berg- und Rosenfest gefeiert wird. So kommt es, daß in jeder Ecke des Rosengartens Musikgruppen auftreten und mit den verschiedensten epochalen Stilrichtungen die Besucher unterhalten. Auf der Freilichtbühne, die sich auf dem Gelände befindet, läuft ein stimmungsvolles Spektakel zur Krönung der neu ernannten Rosenprinzessin ab. Durch das Programm führt der berühmte MDR 1- Moderator Horst Doberschütz.

Die Zeit vergeht zwischen den großzügig angelegten Rabatten wie im Fluge, und ehe wir uns recht versehen, ist die Stunde der Abfahrt herangerückt. Obwohl wir uns an der Bushaltestelle vor dem Ausstellungsgelände verabredet hatten, beschließt Uli Daum, den Bus auf dem zweihundert Meter weiter liegenden Busparkplatz stehen zu lassen. Das hat für uns halt noch einen kleinen Fußmarsch zur Folge, dafür können wir aber in Ruhe einsteigen und es uns zur Weiterfahrt gemütlich machen.

Um die schlechten Straßen der Unstrutniederung nicht noch einmal erleiden zu müssen, haben sich Kurt und Uli Daum für den Rückweg auf eine andere Streckenführung geeinigt, als ursprünglich vorgesehen. Der geänderte Weg bringt uns nach Allstedt. Dieser Ort spielte im Leben Thomas Müntzers eine ganz entscheidende Rolle. Vor der Entscheidungsschlacht des Bauernkrieges bei Frankenhausen, rief Müntzer von der Allstedter Kirche aus die Bauern nochmals zum Kampf auf. Hier gelang es ihm, die ausgebluteten Massen ein letztes Mal mit der Hoffnung auf eine gerechtere Welt zu beseelen und mobilisierte so die äußersten Reserven seines zerschundenen Heeres. Nach der alles zerschmetternden Niederlage wurde er als Gefangener der Fürsten, zum Hohn über sein Versagen, noch einmal an diese Stätte seines früheren Triumphes gebracht.

Indessen geht unsere Fahrt weiter zum nördlichsten Weinanbaugebiet Europas. Unter Kennern erfreuen sich Saale – Unstrut – Weine einer durchaus bemerkenswerten Beliebtheit. Hier in der Gegend um Freyburg werden diese Weine angebaut. Das beste jedoch, was ein Wein in Deutschland werden kann, ist Rotkäppchen – Sekt. Die Kellerei steht, wie jeder weiß, in Freyburg. Dass im Domkeller der Kellerei das größte Cuvee- Faß Deutschlands steht, werden dagegen die wenigsten wissen. Und was wahrscheinlich auch noch nicht jeder weiß, Freyburg war über lange Jahre die Wirkungsstätte des Patrioten und Turnvaters Jahn.

Auf unserem weiteren Weg – wir bewegen uns in Richtung Naumburg – erreichen wir den wohl ältesten Ort unserer Tagesreise. Das in dem sehr reizvollen Blütengrund liegende Großjena wurde bereits 531 urkundlich erwähnt und wäre demzufolge mittlerweile 1486 Jahre alt. Im besagten Blütengrund suchte und fand der Maler Max Klinger viele seiner Motive.

In der Nähe des Ortes Kleinjena mündet die Unstrut nach einhundertsechsundachtzig Kilometern Laufes schließlich in die Saale. Danach dauert es nur noch wenige Minuten, bis wir die berühmte Domstadt Naumburg erreichen.

Der Name geht nachweislich auf die Bezeichnung „Neue Burg“ zurück. Ursächlich mit der Entwicklung der Stadt ist Eckehard II zu nennen. Hoch thronen die Zinnen des Peter Paul – Domes über den Dächern der Stadt. Das vom 12. bis 19. Jahrhundert errichtete Bauwerk ist wohl auch ihre imposanteste Sehenswürdigkeit. Ebenso große Berühmtheit wie der Dom selbst, erreichten die Stifterfiguren Uta und Eckehard. Eine weitere Straßensperrung zwingt uns, wieder vom vorgesehenen Weg abzuweichen.

Bad Kösen und Großheringen, die eigentlich in Kurts Reiseroute mit eingeplant sind, bleiben somit rechts liegen. Wir bleiben derweil auf der B88und halten direkt auf Jena zu. Was wir uns nicht nehmen lassen, ist eine Rast, damit sich alle nochmal die Beine vertreten können.

Ganz im Gegensatz zum Streckenplan funktioniert Kurts Zeitplan nahezu perfekt, so daß wir unsere Fahrtunterbrechung großzügig ausdehnen können. Bei dem herrlichen Wetter ist der Aufenthalt an der frischen Luft freilich eine ausgesprochen angenehme Sache. Kurt nutzt die Gelegenheit, per Handy eine Vorbestellung fürs Abendbrot abzusetzen.

Schließlich müssen wir aber doch wieder in die Spur – bis Maua, wo Kurt unser Essen bestellt hat -, soll jetzt in einem Zuge durchgefahren werden. Im Bus ist es jetzt relativ still geworden. Viele werden das bisher Erlebte in aller Ruhe auf sich wirken lassen. Manch einer befasst sich aber vielleicht in Gedanken auch mit ganz etwas anderem. Auch unser Reiseleiter hält sich mit seinen Kommentaren ziemlich zurück. In Camburg kommt er kurz auf die Entelektrifizierung der Bahnstrecke zwischen Camburg und Probstzella zu sprechen, die nach dem Krieg durch unsere sowjetischen Freunde veranlaßt wurde. In Dornburg gibt er einen Hinweis auf die Schlösser, die wir heute nur aus der Froschperspektive erleben. Daß wir in Kürze Maua erreichen werden, gibt Kurt in Jena bekannt. Wir erfahren weiterhin, daß dort ein Fahrerwechsel stattfinden wird. Uli Daum bestätigt gleich darauf, daß es wirklich so geplant ist. Er versäumt auch nicht, sich gleich aufs Höflichste zu verabschieden, und kaum, daß seine letzten Worte verklungen sind, ist Maua auch schon in Sicht.

Der Bus hält am Goldenen Schiff, dem Gasthaus, in dem wir einkehren wollen. In der Gaststube sind unsere Tische schon vorbereitet und so lassen wir uns erwartungsvoll nieder. Zum Abendessen weilt Uli noch in unserer Gesellschaft. Er wird uns erst verlassen, nachdem er sich hier in unserer Mitte nochmal ordentlich gestärkt hat. Dank Kurts Vorbestellung geht das Servieren recht flott von der Hand. So dauert es gar nicht lange, bis jeder die gewünschte Mahlzeit – dazu ein leckeres Getränk – vor sich auf dem Tisch stehen hat. Die heitere Stimmung während des Essens spiegelt den erfolgreichen Verlauf des Tages und die gute Laune während der ganzen Fahrt wider. Doch unweigerlich kommt die Stunde des Abschieds. Ulis Ablösung besteht aus zwei jüngeren Kollegen, die sich von nun an in die Verantwortung für den Bus teilen. Ohne Hast bezahlen wir, denn es ist noch heller Tag. Und uns steht nur noch die Fahrt direkt nach Hause – jeder in sein Dorf -, bevor. Was wir noch gar nicht so genau wissen können, als wir zum letzten Mal an diesem Tag in den Bus steigen; Umwege wird es auf dieser Fahrt nicht mehr geben.

Eddy Bleyer